Dieselskandal: Merklinger sieht an Landgericht bessere Chancen als in Braunschweig

Rastatt — Hunderttausende Diesel-Fahrer warten auf die­sen Tag: Am Montag wird die große Schadenersatzklage ge­gen Volkswagen erstmals vor dem Oberlandesgericht Braunschweig verhandelt. Der Bundesverband der Ver­braucherzentrale (vzbv) will VW das Fürchten lehren. Doch auch die Verbraucher­schützer raten einigen Ge­schädigten im Dieselskandal, besser selbst zu klagen. Rechtsanwalt Markus Merk­linger vertritt einige Mandan­ten am Landgericht Baden-Baden. Mit dem 47-jährigen Rastatter unterhielt sich BT­Redakteur Hartmut Metz.

BT: Die Klagewelle rollt auf VW zu. Der vzbv berichtet von fast 440000 Anmeldungen. Bis 29. September kann man sich noch anschließen. Für wen empfiehlt sich das?

Merklinger: Für Diesel-Fah­rer ohne Rechtsschutzversiche­rung. Mit der Musterfeststel­lungsklage kann sich jeder im Kollektiv seine Rechte sichern. Nebenbei wird so die Verjäh­rung Ende 2019 gehemmt.

Interview

BT: Der Verbraucherschutz­verband rät auch zu Einzelkla­gen, wenn man eine Rechts­schutzversicherung hat. Was spricht für diese Einzelklagen?

Merklinger: Bei der Muster­feststellungsklage muss der Ge­schädigte ohnehin später selbst klagen, um seine individuellen Ansprüche durchzusetzen. Man erhält durch die Muster­feststellungsklage noch keinen Titel, sondern nur die Feststel­lung, dass der VW-Konzern ei­nen Fehler begangen hat und haftet. Der große Vorteil einer Einzelklage besteht darin, dass der Geschädigte meist bereits nach einem halben oder gan­zen Jahr den Schadenersatz re­lativ zeitnah erhält.

BT: Bisher haben Verbrau­cher aber nur rund 80000 Ein­zelklagen eingereicht. Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?

Merklinger: Viele fühlen sich noch nicht betroffen, weil die Diesel-Fahrverbote bis dato le­diglich in wenigen Großstäd­ten verhängt wurden. Zudem glauben viele, die Software-Up­dates schützten sie vor Wert­verlust, was ein Irrtum ist. Die Updates mindern zum Beispiel die Motorleistung. Außerdem verkaufen sich Diesel-Fahrzeu­ge schlechter als vor dem Skandal. Letztlich sind die Schäden für die meisten noch nicht so offensichtlich, solange sie keinen Verlust bei einem Verkauf bemerken. Hinzu ge­sellt sich Unwissenheit, weil keiner konkret weiß, was er als Schadenersatz erhält.

BT: Der vzbv-Chef Klaus Müller nennt das Musterver­fahren einen „Elfmeter ohne Torwart“. Sind die Siegchan­cen so hoch?

Merklinger: Ein „Elfmeter ohne Torwart“ würde ich nicht sagen. Letztlich muss für eine erfolgreiche Klage der Vorsatz der Autohersteller festgestellt werden. Prozesse gegen die Konzerne sind erfolgverspre­chend — aber „Elfmeter ohne Torwart“, nein, da wäre ich vorsichtiger. Wie heißt es im­mer so schön: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Got­tes Hand …

BT: VW scheint dagegen si­cher zu sein, einen guten Tor­wart ins Tor stellen zu können — der Konzern gibt sich auch siegesgewiss und verweist dar­auf, dass die Autos ja alle fah­ren und der Kunde keinen Schaden erlitten habe. Ist also nur die Umwelt der Dumme?

Merklinger: Ich sehe es schon so, dass der Kunde ebenso der Dumme ist. Die Autos sind irgendwann wert­los, die versprochenen Abgas­werte wurden nicht umgesetzt und die Fahrzeuge werden the­oretisch irgendwann womög­lich aus dem Verkehr gezogen.

Braunschweiger Urteile bisher immer pro VW

BT: Die Chance, durch eine Einzelklage schneller an sein Geld zu kommen, haben Sie bereits erwähnt Gibt es weite­re Unterschiede bei den Sieg­chancen für Verbraucher, etwa durch den Prozess-Ort? Braunschweig, wo das Verfah­ren am 30. September beginnt, ist VW-Land …

Merklinger: Jeder kann dort klagen, wo er das Auto gekauft hat und der Schaden entstand. Die Braunschweiger Gerichte haben bisher immer zugunsten von VW entschieden. Die Landgerichte, die bereits Pro­zesse abschlossen, haben hin­gegen mehrheitlich das Ver­schulden von VW anerkannt. Insofern macht die Musterfest­stellungsklage nicht so viel Sinn, weil man das Ergebnis bereits kennt Das hiesige Landgericht Baden-Baden geht zum Beispiel auch von einem Verschulden von VW aus. Wie erwähnt Die Mitkläger des Verfahrens in Braunschweig laufen immerhin keine Gefahr, durch Verjährung ihre Ansprü­ che zu verlieren. Zudem dür­fen sie hoffen, dass VW danach einknickt und Vergleiche an­bietet. Dies bezweifeln jedoch Experten zunehmend, da VW großes Interesse daran hat, das Verfahren zu verschleppen. Bei der individuellen Klage geht es eben schneller — und vor allem beziffern die Gerichte den ex­akten Schaden eines jeden.

BT: Können die Diesel-Fah­rer gegen den VW-Konzern oder das Autohaus klagen?

Merklinger: Es geht beides. Alle Mittelbadener können das Landgericht Baden-Baden an­rufen, wenn sie das Auto in Mittelbaden gekauft haben.

BT: Bekommt man bei ei­nem entsprechenden Urteil sei­nen Schaden von VW, dem Händler oder anteilig von bei­den ersetzt?

Merklinger: Das kommt dar­auf an, wen man verklagt und was man anstrebt. Klagt man auf Gewährleistung, will sein Auto zurückgeben und wieder den Kaufpreis haben, ist der Händler betroffen. Klagt man auf vorsätzliche Schädigung, muss VW dafür geradestehen. Dieser Prozess kann auch am Landgericht Baden-Baden ge­führt werden. Der Kläger kann den Wagen ebenso an VW zu­rückgeben und muss wegen der vorsätzlichen Schädigung —sagen zumindest einige Gerich­te — keine Nutzungsentgelte für die Zeit seit dem Kauf bezah­len.

Bei Daimler&Co. endet Verjährung später

BT: Bis wann können Be­troffene die anderen Autoher­steller verklagen?

Merklinger: Bei den anderen schummelnden Herstellern von Mercedes-Benz über BMW bis Opel und einigen ausländischen Autobauern gibt es noch keine Musterfeststel­lungsklagen. Die Verjährungs­frist beträgt auch bei diesen je­weils drei Jahre nach Bekannt­werden des Betrugs. Es hängt also davon ab, wann der Be­trug aufflog. Bei BMW hieß es ja zunächst, die Münchner sei­en nicht betroffen. Dass das nicht stimmte, wurde später bekannt, weshalb die Verjäh­rungsfrist später endet. Ge­währleistungsansprüche ver­jähren allerdings grundsätzlich bereits nach zwei Jahren.

Schadenersatz hängt von Autogröße ab

BT: Mit welchen konkreten Summen rechnen Sie für die Diesel-Kunden?

Merklinger: Das lässt sich wirklich nicht exakt bestim­men. Bei einem Kleinwagen liegt die Summe niedriger als bei einem großen SUV, bei dem der Käufer einen deutlich höheren Verlust erleidet. Zu­dem hängt es von der Nut­zungsdauer ab. Je länger es be­nutzt wird, umso stärker sin­ken Fahrzeugwert und Höhe des Schadenersatzes.

BT: Vor mehr als drei Jahren flog der Diesel-Skandal auf. Experten rechnen mit jeweils zwei weiteren Jahren beim Gang durch die Instanzen. Das bedeutet, dass nach sieben, acht Jahren die Autos nur noch einen Bruchteil des Kaufprei­ses wert sind und VW kaum mehr etwas zahlen muss … Je­de Verzögerung bedeutet also bares Geld für die Wolfsburger.

Merklinger: So ist es. Des­halb wäre es auch eine Mög­lichkeit, im Falle eines Kredit­kaufs, auf Widerruf zu klagen. Hierbei sind die Chancen für Einzelkläger noch besser. Vor allem könnte man ohne Nut­zungsentschädigung aus dem Vertrag kommen. So entschie­den bereits einige Gerichte.

BT: Prozessfinanzierer rech­nen sich anscheinend gute Chancen aus. Sie bieten ihre Dienste zunächst kostenlos an und erwarten im Erfolgsfalle 15 bis recht üppige 35 Prozent Provision.

Merklinger: Dazu kann ich nichts sagen, weil ich über kei­nerlei Erfahrung mit Prozessfi­nanzierern verfüge. Ob sich das lohnt, wenn bis zu 35 Pro­zent weniger fließen? Generell empfehle ich allen Geschädig­ten mit Rechtsschutzversiche­rung, Klage zu erheben.

Quelle: Badisches Tagblatt / Nr. 223, Ausgabe vom 25.09.2019